Am vergangenen Wochenende starb der Architekt Ernst Hiesmayr. Ein Nachruf von Ute Woltron
Das Bild, das vielen von Ernst Hiesmayr ewig in Erinnerung bleiben wird, zeigt ihn in einem weißen Arbeitskittel, umringt von Studentinnen und Studenten der Technischen Universität Wien. Er überragte groß und dürr, mit weißem, vom Fahrtwind seiner raschen Schritte durchzausten Haarkranz die Szenerie. Die Stimmung um ihn: wach, kreativ und fast immer fröhlich.
Ernst Hiesmayr, dem Wien das Juridicum im ersten Bezirk verdankt, war ein wunderbarer Professor, weil er der Architektur mit echter Leidenschaft verpflichtet war, weil er die Kunst des Bauens liebte - und weil er seine Studenten wirklich mochte.
Seine Korrekturstunden waren Genuss und lehrreiches Spektakel. Er erschien, schaute mit blauem Bunsenbrennerblick erfreut in die Runde, weil jetzt gleich wieder über die Wunder der Architektur debattiert würde, riss sodann energisch Skizzenpapiere und Pläne an sich, ließ sich Entwürfe geduldig erklären, machte auch die täppischsten von ihnen nie herunter, erklärte vielmehr eindringlich, wie man alles besser machen könne - und warum dieses und jenes effizienter, logischer, eleganter lösbar sei.
Mit großen Architektentatzen pflegte der "Hies" oder "Hias", wie er je nach Provenienz seiner studentischen Zöglinge genannt wurde, die dicksten und weichsten Zeichenstifte zu führen, die der Zeichenbedarfsmarkt gerade bereithielt. Denn feinen Druckbleistiften, die allzu schwachbrüstige Skizzen hervorbrachten, begegnete er mit jenem Argwohn, den man giftigen Insekten entgegenzubringen pflegt.
Diese dicken Grafitstifte hingegen waren das Skalpell des Ernst Hiesmayr: Mit ihnen setzte er vitale Striche in die meist noch lebensschwachen Skizzenkonstruktionen der angehenden Architektenschaft, und wenn er damit statischen Missständen zu Leibe rückte und Konstruktionsmängel behob, so benötigte er lediglich ein paar präzise Linien - und die führte er mit der Güte des Wissenden, der sich daran erfreut, anderen etwas Wichtiges beibringen zu können.
Mit Ernst Hiesmayr (86) starb vergangenes Wochenende eine liebenswerte und kraftvolle Persönlichkeit der österreichischen Architektur, die zumalen jenen wert und teuer war, denen die Kunst des Bauens abseits von Mode, Markt und Schreierei wichtig ist. "Ehrliche Architektur" nennt man in Architektenkreisen das, was Hies vertrat - eine Architektur, die nicht nach Modemagazin riecht, sondern nach Beton, Stahl, Holz und Vernunft duftet.
1920 wurde er in Innsbruck geboren, schon als Schüler zog es ihn auf Baustellen, wo er sich seine Material-, Konstruktions- und Praxisorientiertheit früh aneignete. In Graz studierte er schließlich Architektur, 1967 promovierte er an der TU-Wien. Ein Jahr später übernahm er den Vorsitz des Instituts für Hochbau - traditionell das Fundament jeder soliden Architekturausbildung. Von 1975 bis 1977 war er Rektor der TU-Wien. Sein Hochbau-Institut leitete er bis 1991, mit 71 Jahren musste er schließlich mit großem Bedauern altersklauselbedingt den Hut nehmen. Sein eigenes Büro in Wien führte er bis zu seinem Tod weiter. Auszeichnungen und Ehrungen erhielt er sonder Zahl bis hin zum Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich.
Das Lebensprojekt Hiesmayrs war sicherlich der Bau des Juridicums der Universität Wien in der Innenstadt. 1968 nahm er es in Angriff, 1984 vollendete er es. Das moderne Haus im historischen Ambiente rief in der ringstraßenkonservativen Anrainerschaft keine große Zuneigung hervor, es bildet jedoch nach wie vor einen der sympathischsten, authentischsten und auch zeitlosesten Stadträume des ersten Bezirks aus: städtebaulich bravourös gedacht, konstruktiv äußerst anspruchsvoll gemacht.
Wenn sich Studenten heute über Platzmangel beklagen, so ist ihnen unter anderem entgegenzuhalten, dass Hies nur durch ausgetüftelte, schwierigste Entwurfs- und Konstruktionsmaßnahmen ein zusätzliches Geschoß hatte herausschinden können - und eben dieses über eine Aufgabe Hinausdenken und noch bessere, als eigentlich vom Bauherren verlangte Lösungen zu finden, das war eine der Meisterschaften des Ernst Hiesmayr.
Den Architekten Hiesmayr vom Lehrer Hies getrennt zu betrachten wäre Unsinn, denn er war immer beides, und seine Bauherren - waren sie klug genug - lernten und reiften an ihm. Architekt Gerhard Kratochwil, der viele Jahre für und mit Hies gearbeitet hat, erinnert sich an oft ewig währende Planungs- und Verfeinerungsprozesse, denn: "Solange er von einer Lösung nicht absolut überzeugt war, gab er die Pläne nicht frei." Dabei verachtete er modische Gags und Schlenker, denn er betrachtete sich selbst als "Vertreter der klassischen Moderne - vielleicht den Letzten".
"Er war ein genialer Vereinfacher", sagt Architekt Rudolf Prohazka, der ebenfalls mit Hiesmayr über viele Jahre zusammenarbeitete, "er hat das Rückführen auf das Wesentliche perfekt beherrscht, und in seinen Gebäuden wird man nirgendwo verwinkelte, verkrampfte Lösungen finden." Und: "Eine seiner tragenden Eigenschaften war sein Humor: So ernst konnte die Lage gar nicht sein, dass er nicht einen humorvollen Aspekt hätte herausfiltern können."
Neben diversen Einfamilienhäusern widmete sich der Architekt so unterschiedlichen Bauaufgaben wie etwa einem Wirtschaftsförderungsinstitut in Dornbirn, einem Villenhotel in Wien, einer Hauptschule bei Bregenz, einem Chemiehochhaus für die TU-Wien.
"Er hat zugegriffen mit seinen Architektenpratzen", sagt der Bildhauer Karl Prantl, "und was er angegriffen hat, das ist etwas geworden." Prantls Atelierhaus für ihn selbst und seine Familie war eine der letzten großen Arbeiten Hiesmayrs gewesen. Der Künstler knapp und bündig über seinen Freund: Hiesmayr habe Charakter gehabt - und über wenig andere könne er dasselbe sagen.
Sein Architekturbüro hatte der Tiroler in den letzten Jahren langsam in die Hände seiner Mitarbeiter übergeben, die nach und nach ihre eigenen Unternehmen gründeten, jedoch den Büroräumlichkeiten und vor allem ihrem Lehrer gerne verhaftet blieben. "Es ist mir lieber, ihr seid's im Haus und ich hab' Kontakt zur Jugend, als ihr seid's irgendwo und ich hock' allein hier" hatte er gemeint. Nachsatz: "Und wenn's mich braucht's, dann sagt's es."
Vor vier Wochen hatte der betagte Architekt Mitarbeiter und Weggefährten in der ihm eigenen spontanen Art quasi über Nacht zusammengerufen: Er wollte sich nach Vorarlberg zurückziehen und in einer fröhlichen Runde von Wien Abschied nehmen. Wir erlauben uns an dieser Stelle im Namen all seiner Studenten unsere Hochachtung auszudrücken: Herr Professor, wir danken.
Quelle:
Woltron, Ute: „Ernst Hiesmayr 1920 – 2006“ in Der Standard, Wien vom 12.08.2006, Seite 48, Album